LEGASTHENIE als Kultursignal
Als ich 1983 den Amerikaner Ronald Davis in seinem Legasthenie-Institut in der Nähe von San Francisco aufsuchte, hatte ich bereits ein Jahr lang 40 Stunden pro Woche mit zwei stark behinderten Legasthenikern gearbeitet und wusste, dass die Legasthenie ein überaus komplexes Phänomen ist und sich nicht nur auf die bloße Leserechtschreibschwäche beschränkt, sondern dass sie auch viele andere Symptome und vor allem viele positive Qualitäten in sich begreift. Und als Ron mir von dem mehrtätigen spannenden Prozess erzählte, in dem ihm der Durchbruch zum grundlegenden Verständnis seiner eigenen lebenslangen Leserechtschreibschwäche und zu ihrer völligen Überwindung gelungen war, wurde mir sofort klar, dass er nicht nur bahnbrechende Erkenntnisse auf dem Gebiet der Legasthenie als Leserechtschreibschwäche gewonnen, sondern auch eine essenzielle menschliche Veranlagung entdeckt hatte, die weit über den Nutzen für die Arbeit mit Legasthenikern hinausgeht. Als ich ihm dies sagte, erwiderte er: "Ja, ich habe nur die Spitze des Eisbergs entdeckt. Andere werden im Laufe der Zeit weitere Teile des Eisbergs ans Licht bringen."
Dieses Buch dient dem Zweck, vieles von dem zu berichten, was mir mehr als drei Jahrzehnte der Arbeit mit Legasthenikern weitere Teile des Eisbergs sichtbar gemacht haben und was auch anderen nützen kann, die mit legasthenen Menschen leben oder arbeiten. Gleichzeitig möchte ich den Legasthenikern selbst zu dem verdienten positiven Selbstbild verhelfen, das ihnen in der Gesellschaft im Großen und Ganzen leider immer noch nicht zugestanden wird.
Darüber hinaus soll das Buch von Anfang an und von Kapitel zu Kapitel mehr und mehr zeigen, dass die Legasthenie nicht nur ein "Talentsignal" ist, wie der Titel der deutschen Ausgabe des ersten Buches von Ron Davis sagt, sondern auch ein "Kultursignal", das Fakten ins Licht rückt, die für die gesamte menschliche Kultur von Bedeutung sind.